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Von damals bis heute

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Bosnien-Balkan-Blog
Dieser Blog soll die aktuellen Ereignisse und Entwicklungen in Bosnien und Herzegowina verfolgen, analysieren, kommentieren, bewerten. Ein Blog über Bosnien ist nicht möglich, ohne auch die anderen Balkanländer im Blick zu behalten. Und er ist auch nicht möglich, ohne Bosnien und Herzegowina in Beziehung zur EU und zu Deutschland zu setzen, momentan auch zu Russland und zur Ukraine. Wir vom Verein Zukunft gestalten in Bosnien e. V. werden den Blog selbst gestalten, ab und zu Gastschreiber:innen einladen, mal auf Deutsch, mal auf Bosnisch. Wir haben bewusst auf eine Kommentarfunktion verzichtet. Doch wer etwas zu den Texten sagen möchte, kann uns eine E-Mail schreiben unter: info@zukunft-gestalten-bosnien.de

Blog 1,

25.06.2022

Von damals bis heute

Autorin: Dr. Monika Kleck

Dem Kriegsbeginn in Bosnien und Herzegowina im April 1992, vor 30 Jahren folgten 3 ½ Jahre heftige kriegerische Auseinandersetzungen, unvergessen die Belagerung von Sarajevo, ethnische Säuberungen in Srebrenica, Vergewaltigungslager. Der Krieg wurde durch das Abkommen von Dayton im November 1995 beendet und das Land in zwei Entitäten geteilt, doch die Spuren des Krieges und seine Fortführung mit anderen Mitteln sind immer noch spürbar.

Ab dem Jahr 1996 sah es zunächst so aus, als könnte sich das Land positiv entwickeln. Schritt für Schritt fand ein Wiederaufbau statt, Vertriebene konnten vorsichtig zurückkehren, neue Gesetze wurden eingeführt, es gab gemeinsame Projekte der beiden Entitäten. Teilweise geschah dies auf eigene Initiative der Bewohner:innen und Politiker:innen von Bosnien, sehr oft allerdings auf Druck des Hohen Repräsentanten, der mit den „Bonn Powers“ Politiker:innen, die gegen das Dayton-Abkommen arbeiten, absetzen konnte. Auch wirkten viele ausländische Diplomaten aus der EU und den USA auf Reformen hin. Die Nato-Soldaten der SFOR konnten eigene Drohkulissen aufbauen. Oft fanden jedoch auch schon in diesem Zeitraum Ungerechtigkeiten statt, wenn z. B. Vertriebene in Tuzla aus einer Wohnung geräumt wurden, zugleich nicht in ihre Wohnung in der anderen Entität zurückkehren konnten. Die Verfolgung der Kriegsverbrecher:innen erfolgte langsamer als in Zeitlupe.

2006 scheiterte dann ein Reformpaket, welches Dayton abgelöst und ein Land der Bürger:innen (nicht der Völker) begründet hätte. Auch eine gemeinsame Polizei wurde abgelehnt. Damit platzte eine einmalige Chance, das Land aus dem Griff der ethnischen Aufteilung herauszuführen. Denn neben einem Waffenstillstand hat der Daytonvertrag viele Probleme gebracht: einen sehr komplizierten und teuren Staatsaufbau mit vielen Blockademöglichkeiten, die Aufteilung nach ethnischen Gesichtspunkten, verfrühte Wahlen, den Ausschluss von anderen Ethnien aus Staatsämtern. Die Möglichkeit einen modernen, funktionierenden Staat zu entwickeln, war mit der Ablehnung der Reformen bis heute vertan. In den anschließenden Wahlen kamen wieder die Nationalist:innen an die Macht.

Leider hatte zu diesem Zeitpunkt der damalige Hohe Repräsentant Schwarz-Schilling beschlossen, die „Bonn Powers“ nicht mehr zu nutzen, sondern die Macht den bosnischen Politiker:innen zu überlassen. Parallel dazu wurden die SFOR-Truppen durch kleinere EU-Einheiten ersetzt, und es distanzierten sich die EU und die USA immer mehr von der Balkanfrage. Das Land wurde von der internationalen Gemeinschaft sträflich vernachlässigt.

Und dieses Vakuum und die neue Macht ohne Konsequenzen (es drohte keine Absetzung durch den Hohen Repräsentanten mehr) nutzen die Politiker:innen als neue Freiheiten, um zuerst schleichend und später immer offener das Land zu teilen, ihre Macht zu festigen, Korruption und Nepotismus sowie Parteienherrschaft zu praktizieren.

2008 kam die Finanzkrise, die durch die Regierenden genutzt wurde, um mehr finanzielle Macht zu erhalten und die Bürger:innen stärker auszunehmen.

2014 gab es große Demonstrationen, endlich schienen die Bürger:innen genug von der korrupten Elite zu haben. Es wurden neue Demokratiemodelle ausprobiert. Doch die Überschwemmungen, nur wenige Monate nach dem Beginn der Demonstrationen, führten wieder zurück in die alten Modelle, die jetzt noch fester griffen.

Ab 2020 beherrschte dann COVID 19 die Schlagzeilen und das ausgehöhlte medizinische System hatte dem wenig entgegenzusetzen. Bosnien hat eine der höchsten COVID-19-Sterberaten der Welt.

Und jetzt der Krieg in der Ukraine.

All die Krisen wurden genutzt, um Schritt für Schritt eine alles abdeckende Parteiherrschaft, eine Partiokratie einzuführen. Die Direktorenposten der meisten größeren Firmen, sowieso aller staatlichen Einheiten und Firmen, die Schuldirektor:innen, alle Posten im Bildungswesen, werden unter den Parteien, die an der Macht sind, aufgeteilt und nach Parteibuch besetzt, nicht nach Qualifikation. Es gibt nur noch wenige Nischen, in denen dies nicht der Fall ist, z. B. im Billiglohnsektor oder im NGO-Sektor.

Dies führt etwa dazu, dass im Kanton Tuzla seit den letzten Kantonswahlen im Oktober 2018 in vier Jahren drei Mal die Schuldirektor:innen ausgetauscht wurden (und das während der Pandemie, in der die Bildungspolitik elementar wichtig war).

Dass unter solchen Bedingungen eine Weiterentwicklung kaum möglich ist, ist klar. So wurden von den EU-Anforderungen nur minimalste Schritte umgesetzt.

Hinzu kommt die Aufteilung des Landes in zwei Entitäten. 49 % gehören zur Serbischen Republik, 51 % zur Förderation, die wieder in 10 Kantone aufgeteilt ist. Dann gibt es noch den Distrikt Brčko.

Milorad Dodik, momentan das serbische Mitglied im dreiköpfigen Präsidium, aber auch lange Präsident der Serbischen Republik, arbeitet aktiv an einer Spaltung, unterstützt durch den Präsidenten von Serbien und den russischen Präsidenten Putin.

Dragan Čović, Vorsitzender der kroatischen Partei, will mehr Macht für die kroatischen Mitbürger:innen und vor allem die Chance, selbst zu einem der drei Präsidenten gewählt zu werden und blockiert daher die Wahlen, hat eigene Vorschläge zum Wahlgesetz, die die Teilung noch zementieren würden. Es wird wieder über eine dritte Entität gesprochen.

Die internationale Gemeinschaft ist zerstritten, Russland nimmt andere Positionen ein als die EU oder die USA, es gibt noch weitere Spieler wie China und die Türkei. Die EU und die USA machen oft den Fehler, zuerst mit Kroatien und Serbien zu sprechen, bevor sie auf Bosnien zugehen. Und sehr oft finden die Gespräche mit den Parteiführer:innen statt, nicht mit gewählten Repräsentant:innen. (Auch ein Zeichen für die Stärke der Partiokratie).

So hat Bosnien noch immer keinen Kandidatenstatus für die EU. Mit Enttäuschung und gegenseitigen Vorwürfen wurde auf den Kandidatenstatus für die Ukraine und die Republik Moldau und die Absage an Bosnien reagiert.

Im Juli 2021 nutzte der scheidende Hohe Repräsentant Valentin Inzko seit Langem mal wieder die „Bonn Powers“, um zu verbieten, dass Staatsangestellte den Genozid von Srebrenica leugnen. Dies und der Beginn des Ukrainekrieges haben die politischen Prozesse beschleunigt. Milorad Dodik steuert auf eine Spaltung Bosniens zu, die USA und die EU haben ihr Interesse an der Region wiederentdeckt. Der neue Hohe Repräsentant Christian Schmidt erhält nun öfter den Rückhalt, seine Macht zu nutzen, so hat er zuletzt die Wahlfinanzierung für den Herbst durchgesetzt.

Was machen die Menschen in dem Land? Nach EU Schätzungen verlassen jährlich 55.000 Menschen das Land, in den letzten zwei Jahren eher mehr.

Dabei ist es nicht nur die wirtschaftliche Situation (momentan beträgt der monatliche Warenkorb für eine vierköpfige Familie ca. 2.500 KM/1.250 € und der Durchschnittslohn ca. 1.000 KM/500 €; Bosnien gilt als zweitärmstes Land Europas), sondern vor allem die politische Situation. Es ist kaum noch möglich, ohne Parteibuch einen Job zu finden (s. o.), wenn man eine eigene Firma gründen will, sieht man sich einem Wust von Paragraphen gegenüber, die sich zum Teil widersprechen. Unsinnige Regelungen machen einen legalen Verdienst als Unternehmer:in kaum möglich. Ohne an der Korruption teilzunehmen, stellen sich im Bildungswesen viele Hürden auf, gibt es im Krankenhaus eine unterdurchschnittliche Behandlung, bleibt die Infrastruktur im Ort löchrig und unzuverlässig.

D. h. die Menschen verlassen das Land, weil sie es nicht mehr aushalten. Zurück bleibt eine Generation von alten bis sehr alten Menschen und eine Generation über 50 Jahre, die ihre Kinder ins Ausland schickt. Viele junge Menschen wollen in Bosnien bleiben und Bosnien verändern. Sie engagieren sich, solange sie zur Schule gehen, studieren. Doch kurz nach der Familiengründung, ändert sich die Situation. Inzwischen sind sie als junge Erwachsene an viele Grenzen gestoßen, in der Karriere, bei Gründungsambitionen, im Gesundheitswesen, sie denken über die Zukunft ihrer Kinder nach.

Wenn man diesen Text liest, fragt man sich, warum man in dieses Land noch investieren sollte, wo es Hoffnung gibt?

Dazu gibt es sehr unterschiedliche Antworten.

In dem Land wird sich entscheiden, ob Nationalist:innen endgültig die Macht übernehmen und damit das System auch für andere europäische Länder (mit Unterstützung Russlands und anderer) immer attraktiver wird. Die Frage nach Nationalismus oder Demokratie war auch schon eine Frage zu Beginn des Krieges.

Deutschland hat mit Verantwortung im Krieg übernommen, auch für das Dayton Abkommen. Bisher 2 Deutsche Hohe Repräsentanten spiel(t)en eine wichtige Rolle. Die Menschen in dem Land haben verdient, dass sich die EU wieder kümmert, dass die Verantwortung im Sinne der Bürger:innen und nicht der Politiker:innen ausgeübt wird.

In Bosnien wird sich zeigen, ob Putin erfolgreich weiter spalten kann, oder ob europäische Alternativen gewinnen.

Das sind die politischen Antworten.

Die Menschen in Bosnien haben schon viel Leid erlebt, aber sie haben sich die Gastfreundschaft und eine Offenheit erhalten, die beispiellos ist. Sie hoffen immer noch auf eine europäische Perspektive. In Liedern, Geschichten und Kunst gibt es noch eine gemeinsame Plattform der Auseinandersetzung, die auch für uns wichtig sein kann.

Ganz einfach: Bosnien ist ein europäisches Land mit einer spannenden Geschichte verschiedener Kulturen und kann uns alle bereichern.

In Zukunft wird dieser Blog über verschiedene einzelne Aspekte berichten.

Dr. Monika Kleck lebte und arbeitete von August 1994 bis Oktober 2004 in Tuzla, Bosnien und Herzegowina. Auch heute noch begleitet sie für die Freudenberg Stiftung die Projekte der Bürgerstiftung Tuzla und des Schulentwicklungsvereins MIOS. Ihre Promotion hat sie zum Thema „Krieg und Nachkriegszeit“ über die sozioökonomischen Einflüsse auf traumatisierte Frauen in Bosnien geschrieben. Zur Unterstützung der Aktivitäten in Bosnien gründete sie mit anderen ehemaligen Freiwilligen aus Bosnien und bosnischen Kolleg_innen den Verein „Zukunft gestalten in Bosnien e. V.“ und ist momentan dessen Vorsitzende.

Zukunft gestalten in Bosnien e. V. ist ein gemeinnütziger Verein mit dem Ziel, die Entwicklung von Zukunftsperspektiven, Menschenrechten, Wohltätigkeit und Demokratie in Bosnien und Herzegowina aktiv zu fördern und zu unterstützen. Gegründet wurde Zukunft gestalten in Bosnien e. V. im Jahr 2019 von einer Gruppe engagierter Menschen, die alle eine enge persönliche Bindung zu Bosnien und Herzegowina haben: Wir sind Aktivist*innen, Organisator*innen und Projektleiter*innen in Nichtregierungsorganisationen hier und in Bosnien und Herzegowina, Film- und Foto-Dokumentarist*innen und Teilnehmer*innen in Freiwilligenprogrammen. Spenden: GLS Bank, IBAN: DE 87 430 609 678 244 978 300